Dies ist eine Hommage an meine längst vergangene Beziehung zu einer Kiste. Eine Kiste, mit der ich jahrelang quer durch Berlin fuhr und meinem Steuerberater stolz vor die Nase hielt. „Hier, meine Ablage“, würde ich lächelnd sagen. Wissend, dass es in einem Universum außerhalb meiner freiberuflichen, kreativen Tätigkeit Menschen gab, die ihre Belege nach Name, Datum und Art sortierten. Für mich ein sonderbarer Ort mit sonderbaren Menschen, die mehr Wert in Effizienz, als in Zeitoptimierung sehen. In meinem Mikrokosmos gab es nur mich, den Schuhkarton und die Vogel-Strauß-Taktik, in meinem Mikrokosmos galt bereits das Sammeln von Belegen zu einer gut sortierten Ablage.
Bewirtungsbelege, Rechnungen, Mahnungen: Der Schuhkarton gehört zum Freiberufler wie Jung zu Matt, wie Scholz zu Friends und die Deadline zu unserem Berufsalltag. Mein Schuhkarton – hellgrau an den Seiten, ein schwarzer, eleganter Deckel, goldene Letter – war vier Jahre lang mein treuer, trotteliger Begleiter. Willig fraß er Restaurantbelege, Taxiquittungen, knittrige Kassenzettel und vergilbte Zugtickets längst vergangener Reisen.
Außerhalb unserer vier sicheren Wände kannte man meinen Freund mit den vier Ecken unter seinem offiziellen Namen „Ablage“. „Ich muss noch meine Ablage machen“, gehörte zu meinen liebsten Ausreden für sich ankündigende Verabredungen mit unliebsamen Bekannten. So war mein Schuhkarton nicht bloß Ablage, sondern verbaler Notgroschen.
Die Kartons meiner Freunde variierten in Größe, Farbe und Verschleißgrad. „Hier, für deinen Karton“, würde jemand in der Runde beim Essen anmerken. Jedes Essen ein Geschäftsessen, dass am Ende des Abends immer Nahrung für einen unserer Schuhkartons ausspucken würde. Wir Kartonbesitzerinnen und Kartonbesitzer fühlten uns wie ein Geheimbund, der dem brav seine Zettelwirtschaft sortierenden Proletariat immer eine Box voraus war. Wir waren unwissend.
Mit den Jahren der vermeintlichen Zeitersparnis wuchs die Erkenntnis, dass mein analoger Karton in unserer digitalen Welt wie ein Fremdkörper wirkte. Die Risse an seinen Ecken gruben sich immer tiefer in seinen Zellstoff. Und dennoch stopfte ich und stopfte ich, schloss den Deckel und wartete auf ein Wunder der Sorte Cinderella. Eine Fee, ein Kürbis und eine sortierte Ablage. Oder so ähnlich. Denn parallel zu meiner wachsenden Verantwortung als freie Texterin wuchs der Papierberg, der überblickt, sortiert und abgelegt werden musste. Ich und meine eine Box kamen nicht mehr hinterher. So hechelten wir gemeinsam von Steuererklärung zu Steuererklärung.
Für alles gibt es eine Zeit, auch für Fehler. Freelancer – die Grafiker, Designer und Texter dieses Landes – sind buchstäblich federführend in dieser Sparte. Wir machen Fehler, weil wir frei sind und Situationen ausreizen, bis es wehtut. Ich zumindest. Ein mit Belegen prall gefüllter Schuhkarton gehörte dazu. Nun hat man zwei Möglichkeiten: die Notbremse ziehen, den Karton auf den Papiermüll schmeißen und effizient seine Bankgeschäfte regeln. Oder, natürlich zog ich diese Variante vor, Kohle in den Ofen seiner ganz persönlichen Titanic schippen. Am Horizont der Eisberg mit dem großen F auf seiner Spitze. F für Finanzamt.
„Frau S.“, würde mein Steuerberater sagen, „meinen Sie nicht, dass es Zeit wird, Ihnen und vor allem mir die Arbeit zu erleichtern?“. Nickend würde ich meinen Schuhkarton nehmen, alle Quittungen im Rückspuhlmodus zurücklegen und versprechen, die Logistik meiner Bankgeschäfte zu verbessern. Es war Zeit, sich zu trennen.
Heute steht der Schuhkarton auf meinem Kleiderschrank. Ich lächle ihn an, während ich mit wenigen Klicks meine Belege einscanne und abschicke. Es war eine gute Beziehung, in unserer Zweisamkeit waren wir uns genug. Doch irgendwann, das flüsterte ich beim Schlussmachen, reicht es einfach nicht mehr.
Ich sagte: It’s not you, it’s me. Ich habe jetzt Holvi.